Die Nerven liegen blank

Die Corona-Krise trifft uns ins Mark. Sie zeigt uns deutlich, dass unser Wohlstand keine Selbstverständlichkeit ist. Nach einem Jahr voller Unsicherheiten reduziert sich unser Wertegerüst auf einen undifferenzierten Freiheitsbegriff und auf den Erhalt des eigenen Wohlstands, mithin der Sicherung des Eigentums. 

Alles scheint recht, um diese angeblichen Grundrechte zu schützen. Die eigentlichen Grundprinzipien unseres Staates müssen zurückstehen. “Demokratie“, “Rechtsstaat” und “Grundgesetz” sind zu Unwörtern geworden. Auch “Menschenwürde” scheint sich zum Ballast zu entwickeln, wenn um ihretwillen die eigene Freiheit eingeschränkt wird. Der Ruf nach klarem und konsequentem Handeln wird lauter. Die Legitimation ist zweitrangig. Der Zweck heiligt die Mittel.

Selbst Künstlerinnen und Künstler, die es besser wissen sollten, berufen sich seltener auf die Freiheit der Kunst. Viel lieber klagen sie über die prekäre finanzielle Situation. “Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.

Dabei haben gerade die allgemeine Handlungsfreiheit (Art 2 GG) und die Eigentumsgarantie (Art 14 GG) klar definierte Schranken. Sie ergeben sich aus dem notwendigen sozialen Miteinander. Meine eigene Entfaltungsfreiheit endet dort, wo sie die Rechte meines Gegenübers einschränkt, und mein Eigentum muss immer auch dem Allgemeinwohl dienen. Diese Sozialbindung relativiert also genau die Rechte, die wir in der Krise besonders schützen wollen. Sie beschränkt sie deutlich stärker als etwa die Garantie der Menschenwürde, der Gleichheit (Art 3 GG), der Glaubensfreiheit (Art 4 GG) oder auch der Freiheit von Kunst und Wissenschaft (Art 5 GG).

Man muss feststellen, dass unsere Verfassung dem sozialen Gedanken und der Sicherung spezieller Rechte deutlich mehr Gewicht einräumt, als es die Bürgerinnen und Bürger aktuell bereit sind, zu akzeptieren. 

Die Politik wirkt diesem Trend nicht etwa entgegen, sondern fördert ihn durch ein zunehmend panisches Agieren, das jede klare Leitlinie missen lässt. Anstatt sich schon lange Rat und Kraft aus dem Wertekodex des Grundgesetzes zu holen, scheint sie sich einzig und allein auf den Erhalt des erreichten Wohlstands zu konzentrieren. Dabei rennt sie scheinbar immer dorthin, wo man besonders laut ruft, wobei Lautstärke und Geld in einer ungesunden Korrelation stehen. Die Kunst beispielsweise wird als Freizeitluxus – freilich mit dem Verständnis der Mehrheit – vom Tisch gewischt, während die Sicherung des Profits fast schon willkürlich und teils wider jede Vernunft unantastbar scheint.

Die Corona-Krise hält uns einen Vergrößerungsspiegel vor und offenbart besonders deutlich, wie dünnhäutig wir sind, wenn unser Wohlstand in Gefahr ist. Aber es gibt noch andere Herausforderungen wie ein gefährdetes Klima und ein stetig wachsender Migrationsdruck. Sie sind nicht verschwunden sondern ausgeblendet. Sie werden uns einholen am Ende der akuten Krise, langsamer aber um Dimensionen komplexer, wuchtiger und viel schwerer zu beherrschen. Hier gibt es keine Inzidenzwerte, an denen sich die Wirkung von Maßnahmen binnen Wochenfrist erkennen lässt. Hier gibt es keine Impfung und keine Schnelltests, die uns auf eine Rückkehr zur Normalität in absehbarer Zeit hoffen lassen. Ursache und Wirkung klaffen hier zeitlich und räumlich viel weiter auseinander.

Deshalb ist es umso wichtiger, wissenschaftlich die richtigen Berater und auf der Entscheidungsebene die richtigen Leitlinien zu haben. Kurzfristiges Wählerglück und kurzfristiger Gewinnerhalt sind da nicht schlechte Ratgeber. Wir benötigen die Akzeptanz für einen langfristigen Richtungswechsel und den einen oder anderen Einschnitt in individuelle Gewohnheiten und gefühlten Wohlstand zugunsten eines kollektiven Miteinanders. 

Während in der ersten Welle der Pandemie Hoffnung aufblitzte, wir könnten gemeinsam gestärkt aus der Krise herausgehen, verspielt die aktuelle Politik derzeit viel Bonus und verliert zunehmend an Glaubwürdigkeit. Ein nachhaltiger Richtungswechsel wird nur mit unverschlissenen und authentischen Gesichtern zu bewerkstelligen sein. Das können neue sein, aber auch die aktuell Beteiligten mit bisher klarer und konsequenter Haltung.